Die Lehrausbildung als Baustelle des Bildungssystems und was unternommen werden könnte
Die Lehre wird in Österreich hoch gelobt (z.B. hier, hier oder hier). Verschiedene Organisationen, darunter die österreichische Wirtschaftskammer sind stolz auf das duale Ausbildungssystem und die daraus resultierenden Möglichkeiten. Dieses wird als wichtiges Mittel gegen den Facharbeitermangel gesehen. Außerdem gelten Lehrstellen als ein Tool für Integration – wer in einem österreichischen Betrieb arbeitet, der lernt nicht nur fachlich viel, sondern auch Land und Leute kennen. Die Idee von „Apprenticeships“ findet mittlerweile sogar jenseits des Atlantiks Anklang.
Theoretisch verfügen wir in Österreich also über ein System, das junge Menschen zu Fachkräften ausbildet, ihnen gefragte Kompetenzen vermittelt und das darüber hinaus integrativ wirkt. In der Praxis gibt es allerdings sehr viel Aufholbedarf in Sachen Lehre. In meiner Zeit als Lehrer an einer polytechnischen Schule in Wien lernte ich einige der Probleme kennen, denen die Lehre heute gegenübersteht. Trotz aller Herausforderungen, mit denen die Lehre konfrontiert ist, gibt es Ansätze, die die Zukunft positiv beeinflussen können.
Die Probleme des Systems…
Der Ruf der Lehre variiert bedeutend. In Österreich gibt es über 200 Lehrstellen – die Lehrberufe „Elektrotechnik“ und „Maskenbilder/in“ haben wenig gemeinsam, weder inhaltlich noch imagetechnisch. Auch zwischen den verschiedenen Regionen gibt es Differenzen, vielerorts (z.B. auch in meinem familiären Umfeld) genießt die Lehre – glücklicherweise – noch sehr viel Ansehen. Zunehmend gilt aber: Eine Lehre machen die, die die Schule nicht schaffen. Rund um den Ruf der Lehre entsteht ein Teufelskreis: je mehr Jugendliche aufgrund des Images der Lehre keine beginnen, desto mehr wird die Lehre als Auffangbecken für Jugendliche wahrgenommen, die die Schule nicht schaffen. Das verstärkt wiederum das schlechte Image und schadet dem Ausbildungssystem insgesamt. Eine spezielle Rolle nehmen hier auch die Lehrer ein. Wenn Kinder sehr gute Noten haben, wird ihnen oft grundsätzlich – unabhängig von ihren Interessen und außerschulischen Fähigkeiten – eine weiterführende Schule empfohlen.
Darüber hinaus beeinflussen die Erwartungen der Eltern die Zukunftsentscheidungen der Jugendlichen immens. Abhängig vom Hintergrund der Eltern habe ich verschiedene, sich häufig wiederholende Gründe kennengelernt, warum diese einer Lehrausbildung negativ gegenüberstehen:
- – Eltern mit akademischer Ausbildung wollen, dass ihre Kinder auch eine solche Ausbildung bekommen. Sie erinnern sich an die schönen Erfahrungen zurück, die sie auf ihrem Schulweg bzw. im Studium gemacht haben und wünschen sich diese – sowie bestmögliche Karriereoptionen – auch für den Nachwuchs.
- – Eltern, die eine Lehre absolviert haben, raten ihren Kindern von einer solchen ab, weil sie irgendwann im Laufe ihrer Karriere an eine Grenze gestoßen sind, die ohne akademische Ausbildung nur mit erheblichem Aufwand oder gar nicht zu überwinden war.
- – Eltern mit Pflichtschulabschluss raten von der Lehre ab, weil ihr Ruf schlecht ist oder – sollten die Eltern nicht im österreichischen System aufgewachsen sein – weil sie nicht verstehen, was die Lehre ist. Den Unterschied zwischen einem Lehrling im Einzelhandel und einer Hilfskraft, die im Supermarkt die Regale befüllt, erkennt man nicht sofort.
Auch die Erwartungen der Jugendlichen scheitern oft an der Realität: Im 1. Lehrjahr als KFZ-Techniker wechselt man das Öl bei einem Gebrauchtwagen, anstatt einen Neuwagen zu tunen. Als Frisör-Lehrling schneidet man erst Spitzen, man beginnt nicht mit Ballfrisuren. In jedem Job und in jeder Ausbildung gibt es Aufgaben, die keinen Spaß machen – darauf werden Jugendliche zu wenig vorbereitet, was zu unrealistischen Vorstellungen und damit potenziell zum Abbruch der Lehre führt.
Viele Jugendliche entscheiden sich daher für das bekannte System Schule. Man besucht sie halbtags und hat den halben Tag frei bzw. Zeit für Freunde und Vereine. Da man sich oft frontal berieseln lässt, hat man auch viel Energie für das Nachmittagsprogramm. Nach acht Stunden Arbeit in einer Werkstatt sieht das anders aus. Darüber hinaus sind Kinder heute vernetzter denn je, sie bleiben auch nach dem Schulwechsel in Kontakt. Das führt dazu, dass Jugendliche, die eine Lehre beginnen, sich ständig mit Gleichaltrigen in der Schule vergleichen. Fünf Wochen Urlaub im Jahr sind nicht das Gleiche wie drei Monate Ferien. Hinzu kommt, dass Jugendliche es nicht gewohnt sind, zu scheitern. Eine Absage für eine Bewerbung oder Fehler im Umgang mit Kunden haben oft unangenehmere Konsequenzen als schlechte Noten oder ein Elterngespräch. Davor haben Jugendliche Angst.
Der Weg zur Lehre bzw. zum Lehrabschluss ist also mit viel Aufwand verbunden. Nicht nur für die Jugendlichen, sondern auch für Unternehmen. Durchschnittlich kostet die Ausbildung eines Lehrlings im 1. Lehrjahr ein Unternehmen knapp €20.000. Wenn dann keine Arbeitswilligkeit gegeben ist oder wenn Jugendliche es sich im Laufe der Ausbildung anders überlegen, dann ist das nicht nur unschön, sondern vor allem auch teuer. Aus diesem Grund ist es sehr verständlich, wenn mir Firmen erzählen, dass sie in Zukunft keine Lehrlinge mehr aufnehmen bzw. ausbilden wollen. So habe ich beispielsweise für einen Jugendlichen eine Lehrstelle als Zahntechniker gesucht. Von rund 35 Unternehmen, die offiziell als Lehrbetriebe registriert waren, bildeten aber nur zwei tatsächlich Lehrlinge aus, der Rest hat damit aufgehört.
… und Ansätze für die Zukunft
Um die Lehre in ein Modell zu verwandeln, das zu Recht den anfangs genannten Ansprüchen entspricht, müssen einige Schritte unternommen werden. Eine österreichweite, ganzheitliche Strategie wäre dafür notwendig. Diese sollte meiner Meinung nach unter anderem folgende Punkte umfassen:
- – Vergleich einzelner Berufe: Jugendliche und Eltern müssen fühlen, dass die Lehre Zukunftschancen hat. Dafür braucht es nicht nur eine Imagekampagne, verschiedene Ausbildungen müssen auch transparent vergleichbar gemacht werden: Karrieren mit einer Lehre oder mit einem Universitätsstudium haben z.B. sehr unterschiedliche Auswirkungen, unter anderem was Aufstiegschancen, Work Life Balance, oder Jobsicherheit betrifft. Um keine langfristige Frustration zu erzeugen, ist es wichtig, hier ehrliche Zukunftsbilder zu erzeugen. Hier müsste im Schulsystem, im Jugendcoaching oder bei der Berufsberatung angesetzt werden, um einen informativen Vergleich zu ermöglichen.
- – Greifbare Vorteile schaffen: Langfristig kann eine Lehrausbildung sehr viele Vorteile haben, kurzfristige Vorteile gibt es abseits der Lehrlingsentschädigung sehr wenige. Mit der Lehre sollte man sich nicht so fühlen, als hätte man etwas verpasst. So wie es Studenten-Rabatte gibt, sollte es auch Lehrlingsrabatte geben, über Tickets für den öffentlichen Verkehr hinaus. Dabei geht es in erster Linie nicht um finanzielle Vorteile, sondern um die Wahrnehmung. Die Existenz „exklusiver“ Angebote fördert die Zugehörigkeit zu einer Gruppe und das Image dieser. Hier wäre es z.B. wichtig bei Unternehmen Aufmerksamkeit für Lehrlinge zu schaffen, damit diese spezielle Lehrlingsangebote schaffen.
- – Mitarbeiterbeteiligungen: Firmen versuchen, die Fluktuation ihrer Mitarbeiter gering zu halten. Ein Mittel, das hier immer wieder als positives Incentive vorkommt: Mitarbeiterbeteilungen, am Unternehmen oder am Gewinn, generieren Vorteile für Mitarbeiter und binden diese langfristig an den Arbeitgeber. Dies könnte gerade auch für Lehrlinge interessant sein, da in deren Ausbildung sehr viel Zeit und Energie investiert wird.
- – Weiterbildung: Lehrlingsweiterbildung auf hohem Niveau ist wichtig für die Zukunft des Modells und für die Arbeit in einer komplexen, globalen Wirtschaft. Um die Attraktivität der Lehre als langfristige Karriereoption zu erhöhen, ist auch das Commitment Lehrlinge zu Führungskräften auszubilden, notwendig. Das Aufzeigen von Success Stories kann dabei helfen, mehr Jugendliche für die Lehre zu begeistern. Nach Abschluss einer Lehrausbildung stehen Jugendlichen außerdem zahlreiche weitere Möglichkeiten, auch außerhalb der jeweiligen Spezialisierung, offen. Über diese Möglichkeiten bräuchte es ebenfalls mehr Informationen.
- – Berufsorientierung: Hierbei muss auch die Berufsorientierung in der Schule ansetzen. Der Berufsorientierungsunterricht ist generell ein Schlüssel zum Erfolg der Lehre: Das Image und die wahrgenommenen Vorteile einer Lehre können stark durch einen Lehrer geprägt werden, die Angst vor dem Scheitern bei Bewerbungen kann stark reduziert werden. An meiner polytechnischen Schule gab es zahlreiche Lehrer, die über Jahre Zugang zu Lehrbetrieben und ein Verständnis für die Lehre an sich aufgebaut haben. Die Kinder, die an eine polytechnische Schule kommen, haben aber bereits ein Interesse an einem Lehrberuf. Die Förderung von Berufsorientierungslehrern an neuen Mittelschulen und Gymnasien wäre notwendig, um hier auch auf die Interessen der Jugendlichen einzugehen.
- – Anreize für Unternehmen: Es wäre wichtig, Unternehmen mehr finanzielle Anreize für die Lehrlingsausbildung zu bieten. Momentan fließt sehr viel Geld in die Förderung überbetrieblicher Lehrlingsausbildungsstätten. Diese helfen gerade Jugendlichen, die im regulären System keinen Platz finden. Wichtig wäre es aus meiner Sicht, Unternehmen (finanziell) zu fördern, sodass diese auch Jugendlichen, die ihren Anforderungen nicht vollständig entsprechen, als Lehrlinge anstellen. Die Mitarbeit in einem tatsächlichen Unternehmen unterscheidet sich von der Arbeit in einem geschützten Bereich und sollte fokussiert werden.
Ich glaube daran, dass die Lehrlingsausbildung ein Modell mit sehr viel Zukunft ist, das auch in Zeiten immer ungewisserer Jobaussichten Stabilität und gute Qualifikationen bieten kann. Mehr und mehr Menschen und Unternehmen starten Initiativen (z.B. Sindbad), die die Lehre fördern und verbessern und greifen teilweise die oben erwähnten Punkte auf. Mit Harald Mahrer als neuem Präsidenten der WKÖ dürfte sich auch einiges in dem Bereich verändern – hoffentlich zum Positivem.
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