Im Netz gibt es keinen Suezkanal

Ich habe einen Leserbrief rund um das Thema digitale Souveränität geschrieben:

https://www.falter.at/zeitung/20210910/im-netz-gibt-es-keinen-suezkanal


Europa arbeitet daran, die Datenhoheit von amerikanischen Tech-Konzernen zurückzuerlangen. Dafür braucht es mehr Aufmerksamkeit aus Wirtschaft, Wissenschaft und von Seiten der Politik – auch aus Österreich.

Wenn in China ein Sack Reis umfällt, dann ist uns das in Österreich ziemlich egal. Anders ist das, wenn ein Schiff im Suezkanal feststeckt. Ein solches Ereignis kann zu tatsächlichen Produktionsengpässen in Europas Industrie führen.

Europas Produzenten, Lieferanten und Zulieferer sind Teil komplexer, globaler Lieferketten. Insbesondere Österreichs exportorientierte Industrie profitiert häufig davon. Komplexe Strukturen sind aber auch anfällig für Probleme. Solche entstehen zum Beispiel dann, wenn starke, einseitige Abhängigkeiten von einzelnen Unternehmen oder Regionen vorhanden sind. Die Versicherung gegen solche Abhängigkeiten ist funktionierender Wettbewerb.

Denken wir beispielsweise an einen mittelgroßen, spezialisierten Hersteller von Klimaanlagen für Großraumbüros: Dieser benötigt für die Produktion seiner Klimaanlagen einen speziellen Lüfter. Es ist für ihn von Vorteil, wenn er diesen Lüfter von unterschiedlichen Zulieferern beziehen kann, das verschafft ihm Verhandlungsspielraum und erhöhte Flexibilität, sollte einmal ein Lieferant ausfallen.

Daten als Motor der industriellen Weiterentwicklung

Wettbewerb und Unabhängigkeit sind nicht nur im physischen, sondern auch im digitalen Raum relevant: Digitalisierung und Industrie 4.0 spielen bei der Weiterentwicklung des Industriestandorts Österreich eine zentrale Rolle. Produktivitätssteigerungen entstehen dabei häufig durch die innovative Nutzung von Produkt- oder Prozess-Daten.
Unser Klimaanlagen-Produzent könnte zum Beispiel über Sensoren Daten zum Zustand seiner bereits in zahlreichen Großraumbüros angebrachten Klimaanlagen erfassen. Mit Hilfe der erfassten Maschinendaten könnte er dann die Kühlleistung optimieren und so den Energieverbrauch seiner Kunden reduzieren. Außerdem könnte er durch die Auswertung der Daten den optimalen Zeitpunkt der Wartung individueller Klimaanlagen ableiten und seinen Kunden die verbesserte Wartung als zusätzliches Service anbieten.

Anbieter-Auswahl als Gretchenfrage

Um diese Services anzubieten, muss unser Klimaanlagen-Hersteller die benötigten Maschinendaten erfassen, speichern und auswerten können. Er verfügt aber, wie die meisten Unternehmen, über keine große oder spezialisierte IT-Abteilung und muss daher Leistungen zukaufen. Er sucht also nach einem passenden Anbieter für moderne Datenspeicherung.
Bei der Auswahl eines passenden Anbieters stellen sich zentrale Fragen: Welche Leistungen werden angeboten und was kosten sie? Sind die Daten beim Anbieter auch in zehn Jahren noch sicher? Wird auch eine Software angeboten, die bereits ohne viel Programmieraufwand die verbesserte Klimaanlagen-Wartung ermöglicht?

Nicht nur kleinen und mittleren Unternehmen fällt es schwer, hier die optimale Auswahl zu treffen –die Auswahl des passenden Anbieters digitaler Services wird daher zur Gretchenfrage der Datenökonomie.

Folgenreiche Entscheidung

Ist die Entscheidung für den Anbieter und für das von diesem unterstützte System der Datenspeicherung erst einmal getroffen, dann startet ein intensiver Prozess: Bestehende Unternehmensdaten werden migriert, die Datenstruktur wird angepasst bzw. aufgebaut und die Mitarbeiter werden eingeschult. Das alles kostet viel Zeit und Geld.

Für unseren Klimaanlagen-Produzenten ist der Einstieg in die IT-Welt mühsam und aufwändig, seine Mitarbeiter arbeiten sich aber langsam ein und nach einiger Zeit kann er seinen Kunden die optimierte Kühlleistung sowie die verbesserte Wartung der Klimaanlagen anbieten. Die Kunden freuen sich über geringere Gesamtkosten und reduzierte Ausfälle der Klimaanlagen in ihren Büros und sind bereit dafür einen Aufpreis zu zahlen – unser Klimaanlagen-Produzent freut sich über gesteigerte Umsätze.

Gefahr Lock-In-Effekt

Für die gesteigerten Umsätze ist die Kooperation mit Anbietern digitaler Services wesentlich. Doch im digitalen Raum können ebenfalls einseitige Abhängigkeiten entstehen, beispielsweise wenn Anwendungen verschiedener Anbieter nicht kompatibel sind oder wenn Unternehmensdaten durch die Nutzung proprietärer Standards nur mühsam übertragbar sind (Stichwort: Lock-In-Effekt).

Das merkt auch unser Klimaanlagen-Hersteller: Obwohl er mittlerweile einen passenderen Anbieter für Datenspeicherung kennengelernt hat, kommt für ihn ein Wechsel nicht in Frage, denn den oben beschriebenen Prozess möchte er keinesfalls wiederholen. Außerdem ist die Software, die sein aktueller Anbieter für die Klimaanlagen-Wartung einsetzt, mit den Programmen anderer Anbieter nicht kompatibel. Dadurch entsteht für unseren Klimaanlagen-Hersteller eine einseitige Abhängigkeit.

Faire Spielregeln und notwendige Unterstützung

Welche Auswirkungen einseitige Abhängigkeiten im digitalen Raum haben können, erleben wir heute bereits im privaten Bereich, zum Beispiel bei der Nutzung sozialer Netzwerke: Wenn wir dort als Kunden unzufrieden sind, ein solches Service aber trotzdem nutzen möchten, dann müssen wir uns aus einem Mangel an Alternativen auf die Regulierung durch die Politik (Margarethe Vestager) und auf das Engagement aus der Zivilgesellschaft (Max Schrems) verlassen.

Für die Wirtschaft Österreichs und Europas ist es daher notwendig, einseitige Abhängigkeiten im Unternehmensbereich zu vermeiden. Das ist vielen Akteuren bewusst. Die Europäische Kommission arbeitet an der Umsetzung ihrer Datenstrategie, die deutsch-französische Initiative GAIA-X arbeitet an europäischen Spielregeln für die Datenökonomie. Dadurch sollen unterschiedliche Anwendungen und Systeme miteinander kompatibel gemacht und der Wechsel zwischen verschiedenen Anbietern vereinfacht werden. Die europäischen Projekte, die hier ansetzen, benötigen mehr Aufmerksamkeit sowie personelle und finanzielle Unterstützung aus Wirtschaft, Wissenschaft und von Seiten der Politik – auch aus Österreich.

Unser Klimaanlagen-Hersteller hat Zulieferer und Kunden in verschiedenen Teilen der Welt. Mit Hilfe der Digitalisierung zusätzliche Services anzubieten ist für ihn und seine Mitarbeiter ein zukunftsweisender Schritt. Es ist wichtig, dass für ihn dadurch keine langfristigen Nachteile durch einseitige Abhängigkeiten entstehen.

Machbar wäre das, denn: im digitalen Raum gibt es keinen Suezkanal.

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